Die neue Sicherheitsnorm IEC 62368-1, bekannt für ihren risikobasierten Ansatz, gilt für alle Produkte, die aktuell in den Anwendungsbereich von IEC 60065 und 60950-1 fallen. Diese beiden Normen für IT- und AV-Einrichtungen werden am 20. Dezember 2020 durch die neue Norm abgelöst, die sich in ihrem Ansatz grundlegend von ihren Vorgängernormen unterscheidet.
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Die risikobasierte Norm soll den Nutzer vor Energiequellen in den Produkten sowie zugehörigen Bauteilen und Unterbaugruppen schützen. Im Gegensatz hierzu waren die beiden Vorgängernormen ereignisbasiert, d.h. Sie orientierten sich an der Reaktion auf unerwünschte Ereignisse. Die risikobasierte Norm nimmt demgegenüber eine eher proaktive Position gegenüber Gefährdungen ein.
Wenn Ihre Produktpalette aktuell oder in Zukunft IT- oder AV-Einrichtungen beinhaltet, dann ja.
Egal, ob Ihr Produkt bereits nach einer der Vorgängernormen zertifiziert ist oder Sie erstmalig eine Zertifizierung benötigen, eine Zulassung nach der neuen, risikobasierten Norm ist erforderlich.
Die risikobasierte Norm berücksichtigt gefährliche Energiequellen verschiedenster Art. Dabei wird das folgende, allgemeine Szenario zugrunde gelegt:
Welche gefährlichen Energiequellen in IT-/AV-Einrichtungen typischerweise vorhanden sind, wollen wir uns kurz im Einzelnen ansehen.
Strom ist selbstverständlich der gemeinsame Nenner fast aller IT- und AV-Produkte und der übliche Verdächtige, wenn Nutzer schwere Verletzungen erleiden. Die Gefahr reicht dabei von harmloser statischer Elektrizität bis hin zu tödlichen Stromschlägen, wenn Nutzer in direkten Kontakt mit der Netzversorgung kommen.
IT- und AV-Einrichtungen können entweder durch elektrische Störungen wie einen Kurzschluss Feuer fangen oder - falls Batterien im Spiel sind - durch interne chemische Reaktionen, wenn z.B. ein Lithium-Ionen-Akku beschädigt ist.
Gefährliche Chemikalien können Körperverletzungen hervorrufen. Bei IT- und AV-Einrichtungen finden sich solche Substanzen typischerweise in Batterien und Akkus. Auch Ozon emittierende Geräte wie Kopierer fallen in diese Rubrik.
Mechanische Gefahren bestehen beispielsweise durch scharfe Kanten, bewegliche Teile (z.B. Lüfter), ex- oder implodierende Teile, fehlende Standfestigkeit (Produkt kann umkippen) und unsachgemäße Befestigung der Einrichtung (Produkt kann von der Wand oder Decke fallen).
Elektrische Geräte erzeugen Hitze. Dabei können sich Einzelteile so stark erhitzen, dass sie bei Berühren thermische Verletzungen (Verbrennungen) hervorrufen.
Die Norm thematisiert verschiedene Arten von Strahlung wie LED-, Laser- und Röntgenstrahlung. Auch Schall wird berücksichtigt, allerdings beschränkt sich der Anwendungsbereich auf private Musikabspielgeräte. Für jede Kategorie werden strenge Grenzwerte definiert.
Je nach Klassifizierung der Energiequelle bieten sich verschiedene Möglichkeiten an, um den Nutzer zu schützen. Die Grafik unten zeigt, wie Schutzvorrichtungen zwischen die Energiequelle und den Nutzer (Körper) geschaltet werden. Beachten Sie, dass der Nutzer sowohl bei normaler als auch bei anormaler Nutzung des Produkts geschützt sein muss und auch im Falle eines Einzelfehlers eines beliebigen Bauteils.
Man unterscheidet vier verschiedene Arten von Schutzvorrichtungen:
Welche Schutzvorrichtungen erforderlich sind, richtet sich in der gefahrenbasierten Norm nach
Zu ermitteln, welche Schutzvorrichtungen für Ihr Produkt geeignet sind, stellt einen wichtigen Baustein im Zulassungsprozess dar. Während erfahrene Produktentwickler wahrscheinlich ein gutes Gespür dafür haben, worauf zu achten ist, empfiehlt es sich für Newcomer in der Regel professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Mehr dazu im Leitfaden für Produktentwickler: in 6 Schritten von der der Idee zum Markt
Der Prozess der Sicherheitsbewertung an sich ist nicht kompliziert. Allerdings sind manche Gefahren für das ungeübte Auge nicht ohne weiteres zu erkennen und für eine verlässliche Prüfung benötigt man spezielle Geräte und Fachwissen.
Manche Produktentwickler – typischerweise in größeren, gut aufgestellten Firmen – können auf umfangreiche interne Ressourcen zurückgreifen und lassen einen Großteil der Sicherheitsbewertung betriebsintern durchführen. Andere, z.B. Startup-Unternehmen, sind für den gesamten Prozess auf professionelle Unterstützung angewiesen. In beiden Fällen läuft die Sicherheitsbewertung wie folgt ab:
Wenn Ihr Produkt die Sicherheitsbewertung erfolgreich durchlaufen hat, besteht der nächste Schritt in der Erlangung einer formalen Zulassung durch eine Prüf- und Zertifizierungsstelle.
Zuvor sind jedoch von ihrer Seite noch einige Aufgaben zu erledigen. Im Folgenden stellen wir kurz dar, welche Vorbereitungen Sie treffen sollten, ehe Sie Ihr Produkt einer Prüf- und Zertifizierungsstelle vorstellen.
Die Produktbeschreibung einschließlich etwaiger Anleitungen muss im Vorfeld verfügbar sein, um über die vorgesehene Verwendung usw. Aufschluss zu geben. Auch alle kritischen Bauteile in dem Produkt müssen ordnungsgemäß dokumentiert sein. Dies kann in Form von Zertifikaten, Berichten und/oder Datenblättern erfolgen.
Verschaffen Sie sich einen Überblick darüber, welche Art von Personen Zugang zu Ihrem Produkt haben könnte. Die Norm unterscheidet hier zwischen Laien, unterwiesenen Personen und Fachkräften.
Die sechs Energiequellen/Gefahrenarten müssen einer Energieklasse (1, 2 oder 3) zugeordnet werden, um die nötigen Schutzvorrichtungen festzulegen. Die Klassifizierung kann dabei durch eine Kombination von Erklärungen, Berechnungen und Messungen erfolgen. Über mögliche ausgewiesene Energiequellen ist im Vorfeld zu informieren. Die Prüf- und Zertifizierungsstelle verifiziert dann mithilfe von Berechnungen und Messungen die jeweilige Klassifizierung der Energiequelle.
Wenn alle Vorbereitungen getroffen sind, führt die Prüf- und Zertifizierungsstelle die nötigen Prüfungen durch, um zu bestätigen, dass die vorgeschriebenen Schutzvorrichtungen eingerichtet sind. Nach Abschluss dieser Prüfungen werden die benötigten Berichte und Zertifikate ausgestellt.