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So machen Sie Ihr Produkt fit für die IEC 62368-1

Geschrieben von Ole Morten Aaslund | 29. September 2020
Die Einführung der risikobasierten Norm rückt immer näher. So sind Sie gut vorbereitet.

Die neue Sicherheitsnorm IEC 62368-1, bekannt für ihren risikobasierten Ansatz, gilt für alle Produkte, die aktuell in den Anwendungsbereich von IEC 60065 und 60950-1 fallen. Diese beiden Normen für IT- und AV-Einrichtungen werden am 20. Dezember 2020 durch die neue Norm abgelöst, die sich in ihrem Ansatz grundlegend von ihren Vorgängernormen unterscheidet.

Tipp: Sie sind neu in der Produktentwicklung? Dann empfehlen wir Ihnen auch unseren Grundsatzleitfaden für Produktentwickler – In 6 Schritten von der Idee zum Markt. Dort erfahren Sie, wie Sie Konformitätsprobleme und kostenintensive Zeitverzögerungen vermeiden.

Die risikobasierte Norm soll den Nutzer vor Energiequellen in den Produkten sowie zugehörigen Bauteilen und Unterbaugruppen schützen. Im Gegensatz hierzu waren die beiden Vorgängernormen ereignisbasiert, d.h. Sie orientierten sich an der Reaktion auf unerwünschte Ereignisse. Die risikobasierte Norm nimmt demgegenüber eine eher proaktive Position gegenüber Gefährdungen ein. 

Bin ich betroffen?

Wenn Ihre Produktpalette aktuell oder in Zukunft IT- oder AV-Einrichtungen beinhaltet, dann ja. 

Egal, ob Ihr Produkt bereits nach einer der Vorgängernormen zertifiziert ist oder Sie erstmalig eine Zertifizierung benötigen, eine Zulassung nach der neuen, risikobasierten Norm ist erforderlich.

Die sechs Gefährdungen in der Norm

Die risikobasierte Norm berücksichtigt gefährliche Energiequellen verschiedenster Art. Dabei wird das folgende, allgemeine Szenario zugrunde gelegt:

Welche gefährlichen Energiequellen in IT-/AV-Einrichtungen typischerweise vorhanden sind, wollen wir uns kurz im Einzelnen ansehen. 

Elektrische Energie

Strom ist selbstverständlich der gemeinsame Nenner fast aller IT- und AV-Produkte und der übliche Verdächtige, wenn Nutzer schwere Verletzungen erleiden. Die Gefahr reicht dabei von harmloser statischer Elektrizität bis hin zu tödlichen Stromschlägen, wenn Nutzer in direkten Kontakt mit der Netzversorgung kommen.

Feuer

IT- und AV-Einrichtungen können entweder durch elektrische Störungen wie einen Kurzschluss Feuer fangen oder - falls Batterien im Spiel sind - durch interne chemische Reaktionen, wenn z.B. ein Lithium-Ionen-Akku beschädigt ist. 

Chemische Energie

Gefährliche Chemikalien können Körperverletzungen hervorrufen. Bei IT- und AV-Einrichtungen finden sich solche Substanzen typischerweise in Batterien und Akkus. Auch Ozon emittierende Geräte wie Kopierer fallen in diese Rubrik. 

Mechanische Energie

Mechanische Gefahren bestehen beispielsweise durch scharfe Kanten, bewegliche Teile (z.B. Lüfter), ex- oder implodierende Teile, fehlende Standfestigkeit (Produkt kann umkippen) und unsachgemäße Befestigung der Einrichtung (Produkt kann von der Wand oder Decke fallen).

Verbrennung

Elektrische Geräte erzeugen Hitze. Dabei können sich Einzelteile so stark erhitzen, dass sie bei Berühren thermische Verletzungen (Verbrennungen) hervorrufen.

Strahlungsenergie

Die Norm thematisiert verschiedene Arten von Strahlung wie LED-, Laser- und Röntgenstrahlung. Auch Schall wird berücksichtigt, allerdings beschränkt sich der Anwendungsbereich auf private Musikabspielgeräte. Für jede Kategorie werden strenge Grenzwerte definiert.

Wie sieht eine wirksame Schutzvorrichtung aus?

Je nach Klassifizierung der Energiequelle bieten sich verschiedene Möglichkeiten an, um den Nutzer zu schützen. Die Grafik unten zeigt, wie Schutzvorrichtungen zwischen die Energiequelle und den Nutzer (Körper) geschaltet werden. Beachten Sie, dass der Nutzer sowohl bei normaler als auch bei anormaler Nutzung des Produkts geschützt sein muss und auch im Falle eines Einzelfehlers eines beliebigen Bauteils.

 

Man unterscheidet vier verschiedene Arten von Schutzvorrichtungen:

  • Schutzvorrichtungen in der Einrichtung (z.B. das Gehäuse um Ihr Fernsehgerät)
  • Schutzvorrichtungen in der Gebäudeinstallation (z.B. Steckdose)
  • persönliche Schutzvorrichtungen (z.B. Schutzausrüstung wie Helme oder Handschuhe)
  • Verhaltens-Schutzvorrichtungen (z.B.: „darf nur von geschultem Personal bedient werden“)


Welche Schutzvorrichtungen erforderlich sind, richtet sich in der gefahrenbasierten Norm nach

  • den Personen, die Zugang zum Produkt haben und
  • der Klassifizierung der Energiequelle.


Zu ermitteln, welche Schutzvorrichtungen für Ihr Produkt geeignet sind, stellt einen wichtigen Baustein im Zulassungsprozess dar. Während erfahrene Produktentwickler wahrscheinlich ein gutes Gespür dafür haben, worauf zu achten ist, empfiehlt es sich für Newcomer in der Regel professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Mehr dazu im Leitfaden für Produktentwickler: in 6 Schritten von der der Idee zum Markt

 

Der Prozess der Sicherheitsbewertung

Der Prozess der Sicherheitsbewertung an sich ist nicht kompliziert. Allerdings sind manche Gefahren für das ungeübte Auge nicht ohne weiteres zu erkennen und für eine verlässliche Prüfung benötigt man spezielle Geräte und Fachwissen. 

Manche Produktentwickler – typischerweise in größeren, gut aufgestellten Firmen – können auf umfangreiche interne Ressourcen zurückgreifen und lassen einen Großteil der Sicherheitsbewertung betriebsintern durchführen. Andere, z.B. Startup-Unternehmen, sind für den gesamten Prozess auf professionelle Unterstützung angewiesen. In beiden Fällen läuft die Sicherheitsbewertung wie folgt ab:

  1. Identifizieren Sie alle Energiequellen in Ihrem Produkt. 
  2. Sind diese Energiequellen gefährlich? Wenn nein, geht es weiter mit Schritt 7.  
  3. Wenn ja, prüfen Sie, ob diese Energie auf irgendeinem Weg durch normale oder anormale Nutzung des Produkts auf einen Körperteil übertragen werden könnte.
  4. Wenn ja, entwickeln Sie eine Schutzvorrichtung, die eine Energieübertragung auf den Körperteil verhindert. 
  5. Messen Sie die Wirksamkeit der Schutzvorrichtung. 
  6. War sie wirksam?

    Ja? Prima! Weiter geht es mit Schritt 7.

    Nein? Optimieren Sie die Schutzvorrichtung und wiederholen Sie den Prozess ab Schritt 5.  

Gute Arbeit! Jetzt können Sie fortfahren.


So bereiten Sie Ihr Produkt auf die Zertifizierung / Zulassung vor

 

Wenn Ihr Produkt die Sicherheitsbewertung erfolgreich durchlaufen hat, besteht der nächste Schritt in der Erlangung einer formalen Zulassung durch eine Prüf- und Zertifizierungsstelle. 

Zuvor sind jedoch von ihrer Seite noch einige Aufgaben zu erledigen. Im Folgenden stellen wir kurz dar, welche Vorbereitungen Sie treffen sollten, ehe Sie Ihr Produkt einer Prüf- und Zertifizierungsstelle vorstellen. 

 

Produktbeschreibung, Dokumentation und Bedienungsanleitungen

Die Produktbeschreibung einschließlich etwaiger Anleitungen muss im Vorfeld verfügbar sein, um über die vorgesehene Verwendung usw. Aufschluss zu geben. Auch alle kritischen Bauteile in dem Produkt müssen ordnungsgemäß dokumentiert sein. Dies kann in Form von Zertifikaten, Berichten und/oder Datenblättern erfolgen.

Personenkreis – Wer wird Zugang zu Ihrem Produkt haben?


Verschaffen Sie sich einen Überblick darüber, welche Art von Personen Zugang zu Ihrem Produkt haben könnte. Die Norm unterscheidet hier zwischen Laien, unterwiesenen Personen und Fachkräften.

Energieklassen 

Die sechs Energiequellen/Gefahrenarten müssen einer Energieklasse (1, 2 oder 3) zugeordnet werden, um die nötigen Schutzvorrichtungen festzulegen. Die Klassifizierung kann dabei durch eine Kombination von Erklärungen, Berechnungen und Messungen erfolgen. Über mögliche ausgewiesene Energiequellen ist im Vorfeld zu informieren. Die Prüf- und Zertifizierungsstelle verifiziert dann mithilfe von Berechnungen und Messungen die jeweilige Klassifizierung der Energiequelle.

Wenn alle Vorbereitungen getroffen sind, führt die Prüf- und Zertifizierungsstelle die nötigen Prüfungen durch, um zu bestätigen, dass die vorgeschriebenen Schutzvorrichtungen eingerichtet sind. Nach Abschluss dieser Prüfungen werden die benötigten Berichte und Zertifikate ausgestellt.

Fazit

  • Die neue gefahrenbasierte Norm löst IEC 60065 und 60950-1 ab.
  • Sie betrifft alle vorhandenen und geplanten IT- und AV-Produkte.
  • Die Norm unterscheidet sechs gefährliche Energiequellen:
    • elektrische Energie
    • Feuer
    • chemische Energie
    • mechanische Energie
    • Verbrennung
    • Strahlungsenergie
  • Als Produktentwickler sind Sie verpflichtet, den Nutzer vor diesen Gefahren durch Schutzvorrichtungen in einem standardisierten Ansatz zu schützen.
  • Die Wirksamkeit Ihrer Schutzvorrichtungen wird im Zuge einer Sicherheitsbewertung ermittelt. 
  • Bevor Sie den Zertifizierungsprozess anstoßen, sollten alle nötigen Unterlagen und Informationen verfügbar sein wie Anleitungen, Produktbeschreibungen, Personenkreis und Energieklassen.